Nach dem Mord an der 22-jährigen Kurdin Mahsa Amini (Jîna Emînî) durch die iranische Polizei breiten sich im ganzen Land Proteste aus. Wir konnten mit zwei Aktivist_innen der iranischen Widerstandsbewegung Ida und Meytham sprechen und einen Überblick über den Hintergrund und die Bedeutung der aktuellen Aufstände gewinnen.
(agf/gpw) Die massiven Proteste im Iran breiten sich explosionsartig aus. Das Mullah-Regime reagiert mit massiver Gewalt und Repression, im Zuge derer auch das Internet eingeschränkt wurde. So dringen nur wenige Informationen raus. Der folgende Artikel basiert auf einem Interview, welches wir am 27. September im Radio LoRa aufgenommen haben.
Kumulation vergangener Kämpfe
Meytham ist seit Jahrzehnten in der iranischen Arbeiter_innenbewegung aktiv, war wiederholt im Knast und wohnt nun seit 2021 in der Schweiz. Gleich zu Beginn des Interviews stellt er klar, dass die Proteste der iranischen Frauen Ausdruck und Resultat des revolutionären Frauenkampfes des globalen Südens, insbesondere Rojava, sind. Ida, die aktuell in den USA lebt und sehr nahe an der feministischen Bewegung im Iran ist, ergänzt: Für die Analyse der jetzigen Aufstände ist es zentral, die Geschichte des Widerstands im Iran zu kennen. Es wäre falsch anzunehmen, dass die aktuellen Aufstände plötzlich aus dem Nichts über den Iran rollten, denn es sind keine von der Geschichte losgelöste Momente. Sie sind das Resultat der Geschichte des Widerstandes des iranischen Volkes, insbesondere von intensivierten Protesten seit 2017. Dies waren verstreute Aufstände rund um materielle Interessen und der Verarmung der Bevölkerung infolge der ökonomischen Rezession. Dass es nun jedoch die Frauen sind, die eine solche Explosion verursachen, ist das Ergebnis einer reichen Geschichte an Frauenkämpfen. Für die erfolgreiche Revolution gegen die Monarchie des Schahs 1979 waren die revolutionären Frauen zentral. Als dann jedoch die Islamische Partei die Macht übernahm und den Frauen das Tragen des Hidschabs aufzwang, gab es einen dreitägigen Frauenstreik. So wie damals geht es heute jedoch nicht einfach nur um den Hidschab, sondern gegen die Unterdrückung der Frauen und für die Gleichheit aller Geschlechter. Der Streik führte damals zum Rücktritt der Regierung und das Hidschab-Obligatorium wurde zurückgezogen. Dies änderte sich mit dem Iran-Irak Krieg in den 1980ern, welcher als Vorwand für massive Repression gegenüber den oppositionellen linken Organisationen und Parteien und die Einführung der Scharia diente. Doch der Widerstand auf den Strassen hielt immer an und bereitete den Boden für die aktuellen Kämpfe. Ida stellt die Beobachtung auf, dass während der Revolution von 1979 der Fehler gemacht wurde, dass der Frauenkampf nicht zentral geführt und von den männlichen Genossen vernachlässigt wurde. Dies sei kritisiert worden und habe sich verändert. Heute gebe es in der iranischen Bevölkerung und insbesondere in der Linken einen Konsens hinsichtlich des Kampfes für Geschlechtergerechtigkeit, Selbstbestimmung und der Rechte von LGBTIQ. Sie betont, dass verschiedene Bewegungen und Widerstandsfelder im Kampf für Geschlechtergleichheit einen gemeinsamen Bezugspunkt fänden.
Jin, Jiyan, Azadi
Die kurdischen Frauen sind der Auslöser der aktuellen Protestwelle, die insbesondere von den ethnischen Minderheiten getragen wird. In den Wochen vor der Ermordung von Mahsa gingen in Rojhilat (dem auf dem Gebiet des Irans liegenden Teil Kurdistans) die Frauen bereits gegen Femizide auf die Strasse. Der Auslöser war der Tod einer anderen kurdischen Frau, welche sich von einem Dach stürzte, um einer Vergewaltigung zu entgehen. Meytham wie auch Ida weisen wiederholt darauf hin, dass die Parole Jin, Jiyan, Azadi (Frauen, Leben Freiheit) bei allen Protesten durch die Strassen hallt. Dies ist die zentrale Parole der kurdischen Frauenbewegung und der Frauenrevolution in Rojava, welche als Bezugspunkt und Perspektive eine wahnsinnige Strahlkraft im gesamten sogenannten „Nahen Osten“ hat. Auch die Frauen in Afghanistan benutzen diese Parole. Dass nun Jin, Jiyan, Azadi auf kurdisch, arabisch, beludschi, farsi und türkisch gesungen wird, zeigt, wie multiethnisch und progressiv die Aufstände sind, und verweist auf die Einheit des Kampfes. „Die Stimmen der unterdrückten Frauen sind die Stimmen aller Unterdrückten“, so Meytham. Er sieht in den Parolen der Strasse die Ansammlung des Widerstands der letzten Jahre gegen die Apartheid und Unterdrückung der ethnischen Minderheiten, die Forderung nach Jobs, nach ausreichend Wasser, nach Gleichberechtigung.
Brot, Arbeit, Freiheit!
Die aktuellen Aufstände haben ihren Auslöser zwar im Kampf gegen die Frauenunterdrückung. Die Frauen gehen aber nicht nur gegen den Hidschab auf die Strasse, sie singen auch: Brot, Arbeit, Freiheit! Von der Frauenbewegung ausgehend weiten sich die Proteste auf verschiedene Teile der Bevölkerung aus. Die Arbeiter_innenbewegung mobilisiert, die Studierenden kämpfen in den Universitäten und die Gewerkschaft der Lehrer_innen, deren zentrale Führungspersonen im Knast sind, haben zu einem nationalen Lehrer_innenstreik aufgerufen. Ida weist darauf hin, dass ökonomische Aspekte zentral für den Aufstand der Frauen sind. Die aktuellen Proteste beziehen sich auf und werden unterstützt durch die Arbeiter_innenbewegung. Die Wirtschaftspolitik der iranischen Regierung ist im Einklang mit dem Westen und den Forderungen von IWF und Weltbank. Die vergangenen Jahrzehnte waren gezeichnet von Privatisierungen und haben zu einer massiven Verarmung geführt. Als Resultat wird die Arbeiter_innenbewegung immer stärker und ist insbesondere seit 2017 sehr aktiv. Ergänzend erzählt Meytham von der geographischen Ausweitung der radikalen Proteste. Plötzlich hörten sie von Aufständen in Städten, welche in den vergangenen Protestzyklen noch ruhig gebliebenen waren. Dieser radikale Widerstand werde aus der Frauenbewegung geboren und zu einer Tradition. Das sich im Land ausbreitende Zusammenkommen verschiedener Bewegungen in der militanten Strassenpraxis unterscheidet die jetzige Protestwelle von vorangegangenen und lässt tatsächlich die Hoffnung zu, dass sie der Auslöser einer Revolution sein könnten. Ida kritisiert diesbezüglich die westliche Berichterstattung insofern, dass die gesamten Proteste auf die Frage des Hidschabs reduziert würden, jedoch auf den Strassen Irans die Systemfrage gestellt wird.
Kämpfende und keine Opfer
Meytham drückt die Entschlossenheit der Protestierenden in starken Worten aus: „Unsere wichtigste Nachricht an die Welt ist das: Wir sind keine Opfer, wir sind Kämpfende. Wir sind zu Kämpfenden geworden durch unseren Widerstand auf der Strasse. Wir kamen zu diesem Radikalismus durch Wissen, Bewusstsein und durch den Strassenkampf. Wir waren nie Opfer, welche um die Aufmerksamkeit internationaler Organisationen gebettelt haben. Nein, wir haben immer zusammen gekämpft und jetzt gerade kämpfen wir zusammen. Die Herrschenden haben immer versucht uns entlang religiöser oder ethnischer Linien zu spalten. Aber die aktuellen Proteste kommen von den Frauen aus und beziehen sich auf das Bewusstsein der Arbeiterbewegung. Die proletarischen Organisationen hatten nie nur eine Sprache oder eine Ethnie, wir waren immer multiethnisch. Die Frauenbewegung heute führt diese Tradition fort und singt in verschiedenen Sprachen: Frauen, Arbeit, Freiheit.“ Er richtet sich in seinen Worten gegen die Bestrebungen des Westens, sich im Iran einzumischen und ihre imperialistischen Interessen so durchzusetzen. Ida weist darauf hin, dass die Bewegung im Iran diesbezüglich ihre Lehren aus dem Arabischen Frühling – der zu einem Herbst geworden sei – gezogen habe. Die Frauen, die ethnischen Minderheiten, die LGBTIQ-Personen seien alle auf der Strasse und kämpften für ihre Freiheit. Auf der Strasse erleben die Menschen ihre kollektive Kraft und sie werden es nicht zulassen, dass ihre Revolution von irgendeiner Macht gestohlen werde.
Hoch die internationale Solidarität – Es ist auch unsere Revolution
Als Internationalist_innen und Kommunist_innen fragten wir die beiden danach, wie wir die Proteste unterstützen könnten. Für Ida ist es zentral, dass sie nicht die Solidarität der Regierungen suchen. In keiner Parole sei die Forderung nach internationaler Einmischung gehört worden. Hingegen brauche es die Solidarität der Bevölkerung, denn: „Wir als Bevölkerung, als Iraner_innen, als Schweizer_innen, als Menschen aus Südamerika, aus Europa, wir als Menschen haben mehr Gemeinsamkeiten als wir gemeinsame Interessen mit unseren Regierungen haben.“, so Ida. Meytham: „Unsere Hoffnung liegt auf unseren Strassen und nicht auf Staaten. Denn wir wissen, dass das iranische Öl für ausländische Regierungen wichtiger ist als unsere Menschen.“ Der Kampf im Iran ist ein universeller Kampf für Geschlechtergerechtigkeit, für politische und ökonomische Freiheit. Wir im Westen können von der iranischen Bewegung lernen und so bleibt die Aufforderung klar: Auf die Strasse in Solidarität! Denn die Kämpfe der iranischen Bevölkerung sind auch unsere Kämpfe, denn sie kämpfen für eine gemeinsame Perspektive. Wir brauchen alle die gegenseitige Unterstützung, um eines Tages siegreich zu sein.
Interview aus der Roten Welle
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